Er spielt einige Akkorde und findet auch schnell die begleitende Melodie, um die Singenden rhythmisch zu unterstützen. Jetzt stimmen Frauen ein in den Gesang. „Imidiwan Afrik Tendam“ – schliesse Deine Augen oder öffne Dein Herz und lass Dich entführen mitten in die musikalische Wüstenlandschaft von TINARIWEN, der Desertrockband aus Mali, die mit “Imidiwan: Companions” ihre neueste CD präsentiert.
Mittlerweile bin ich bereits gefangen im hypnotischen Groove des ersten Stücks. Ohne jetzt in einen pathetischen Wortrausch zu verfallen, die Musik von TINARIWEN ist warm, fesselnd, intensiv und schafft eine Atmosphäre, wie wenige Rockplatten es zurzeit vermögen.
„Lulla“ ist rockiger, schneller und das schrille Trillern der arabischen Frauen mischt sich ein und begleitet diesen mächtigen Song fortan. Der musikalische Rausch, den die Band hier entstehen lässt, wird komplexer. Einer dichter, sensationeller Sound, der kaum zu fassen ist beim ersten Hören. Vergleichbar höchstens mit einer schrillbunten Bollywood-Choregraphie – hier läuft es ähnlich ab. Der ganze Stamm ist angetreten, Kamele, Wüstenratten, alles was kreucht und fleucht, ist plötzlich auf den Beinen und tanzt mit.
Und dass sich auch TINARIWEN weiter entwickeln und offen sind für alle Richtungen, zeigt der leichte Off-Beat in „Tenhert“. Afrikanischen Wüstenreggae hatten wir auch noch nicht, oder? Der Song wird vorgetragen in Erzählweise.
Abdallah Ag Alhousseyni erzählt die Geschichte in einem eigentümlichen Sprech-Singsang, der Sound schwillt an, Unglaublich, dass er nur von Gitarren, Perkussion und Bass verursacht wird. Okay, ich muss gestehen, ich habe den Kopfhörer (wie meistens) fast bis zum Anschlag aufgedreht (if it’s too loud, you’re too old = mein Lieblingsspruch / und wenn meine Trommelfelle platzen, was könnte schöner sein, als zu der Musik von TINARIWEN?). 5 Minuten verzerrte Wüstenglückseligkeit.
Doch bei aller politischen Raffinesse. Zeit für die Liebe muss auch sein. „Enseqi Ehad didagh“ (zu deutsch: Ich lege mich heute nacht zu Dir, sehe zu den Sternen und habe Dein Bild vor meinen Augen), die Gitarre plätschert in bestem Roots-Rock-Swamp-Soul – Stahlseiten, das Volumen ist aufgedreht, denn Du hörst jede Bewegung, jedes leichte Quietschen beim Hin- und herschieben der Akkorde, der Zuhörer befindet sich inmitten der Tonabnehmer- Spule, Ibrahim kratzt mit seinem Plektrum an den ungeschliffenen Saiten und verursacht diesen warmen Sound, der dich den Wüstensand unter Deinen Füssen spüren lässt.
„Tahult In“ – das Tempo wird angezogen. Ein Song, der mit historischen Tatsachen aufwartet. Die Koacen Revolte der Tuaregs gegen die französsichen Kolonialisten hatte im Jahre 1916 tatsächlich stattgefunden.
Nach dem ebenso in den Bann ziehenden „Kel Tamashek“ (ein Song über die Tamashek People) kommt „Chabiba“, das den bisher bekanntesten Griot- stücken aus Mali sehr nahe kommt. Weniger revolutionäre Stimmung, sondern ausgelassene Fröhlichkeit ist spürbar, von der Stimmung so ähnlich wie die Songs des grossen Salif Keita, Ali Toure Farke oder gar von Amdaou & Mariam. Der Song ist geichzeitig ein Liebeslied an Beziehungen, an die Eltern, an die Heimat, an Brüder und Schwestern und an alle Erinnerungen, die sich im Herzen verankert haben und die durch keine Revolution ausgelöscht werden können.
Alhassane Ag Qouhami aka Le Lion singt den letzten Song des Albums („Ere Tasfata Adounia“). Ein mächtige Wüstenblues-Nummer mit zitterndem, vibrierenden Gitarrentremolo. Ein gewaltiger Chor vereint hier das ryhtmische Klatschen, das Eins wird mit den abgehackten Akkorden, die die ersten Takte „schlagen“. Der Riesen Sound wird erreicht durch die vier gleichzeitig spielenden Gitarren, am Ende gibt es zwei Minuten lang einen wilden schnellen Jam, den ich in dieser Intensität auch noch nicht von TINARIWEN gehört habe.
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